Wer jetzt denkt Waldbaden wäre nur ein neues Modewort für einen Waldspaziergang, der irrt. Denn das wäre eigentlich schon wieder viel zu viel geplant, hat so ein Spaziergang doch zumeist
irgendeine bestimmte Route oder ein bestimmtes Ziel. Und dabei wollen wir beim Waldbaden doch einfach einmal bewusst keines setzen. Hier geht es vielmehr um ein achtsames und absichtsloses
Schlendern durch den Wald. Es soll einmal keinen Plan, keine To-Do-Liste geben, die es abzuarbeiten gilt. Was wir tun, tun wir langsam, wir halten inne und staunen und das darf gerne auch einmal
länger dauern, denn Shinrin Yoku ist darauf ausgerichtet, Stress zu reduzieren und das allgemeine Wohlbefinden zu stärken. Einfach mal sein statt tun, nichts vornehmen, einfach mal Zeit
verschwenden und sich treiben lassen, um das zu finden, was uns im Alltag oft fehlt: Ruhe, Muße, Entspannung und Erfüllung.
Am meisten Zeit hat man übrigens, wenn man diese komplett vergisst. Handy und Uhr dürfen also gerne einmal zuhause bleiben. Richte dich doch einmal nach dem Stand der Sonne und finde deinen
eigenen Rhythmus.
Und dann probiere einmal den Weg der vor dir liegt, ganz bewusst wahrzunehmen. Spaziere einfach los. Wie fühlt sich der Boden unter deinen Füßen an? Gehst Du auf Gras, weichem Waldboden oder
piekst etwas? Nadeln vielleicht? Welche Geräusche kannst du in deiner Umgebung wahrnehmen? Hörst du Vögel singen? Oder vielleicht knackende Äste oder den Wind in den Baumwipfeln? Welche Tiere und
Pflanzen kannst du entdecken? Nutze alle deine Sinne: sehe, höre, rieche, taste und wenn es sich ergibt, schmecke auch. Wie fühlt sich z.B. die Baumrinde an? Gibt es in deinem Wald einen
bestimmten Geruch? Und wie fühlt sich die Luft überhaupt an? Ist es warm oder kühl, hat es vielleicht geregnet und eine gewisse Feuchte ist spürbar? Achte beim Gehen auch darauf, wie sich dein
Köper anfühlt. Gehst du schnell oder langsam? Gerade oder im Zickzack? Achte auf alle deine Empfindungen und genieße einfach den Moment im Hier und Jetzt.
Liebe Erwachsene, die ihr das lest. Ich weiß, das ist für viele von euch gar nicht so einfach. Aber nehmt euch doch einfach einmal eure Kinder zum Vorbild oder erinnert euch zurück an die Zeit,
in der ihr unterwegs an jedem Stöckchen und Steinchen anhalten musstet, weil der Nachwuchs am Wegesrand etwas entdeckt hatte und dies voller Begeisterung – in der Achtsamkeitspraxis nennt man das
übrigens „Anfängergeist“ – einmal ganz ausgiebig untersuchen musste. Kinder sind die geborenen Waldbader und absolute Meister darin, sich ganz in ihr Tun zu versenken. Tut es ihnen einfach
nach!
Dass der Wald eine heilsame und entspannende Wirkung auf uns hat, ist nicht nur in Japan sondern auch bei uns mittlerweile schon lange wissenschaftlich erwiesen. So gibt es im Wald einige
Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel dazu führen, dass uns ein Waldbesuch gut tut. Schon die Waldatmosphäre an sich, mit ihren beruhigenden Naturgeräuschen und den facettenreichen Grüntönen – vom
dunkelgrünen Grün der Bäume bis hin zum hellen Frühlingsgrün – sorgt für einen gewissen Wohlfühlfaktor. Grün, so sagt die Farbpsychologie, stimmt uns ruhig und harmonisch und gibt uns ein Gefühl
der Ausgeglichenheit. Außerdem soll die Farbe auch entspannend für die Augen sein, weil die Betrachtung nicht anstrengt.
Hinzu kommt aber noch ein weiterer Faktor – die heilsamen Terpene in der reinen Waldluft. Terpene sind Pflanzenstoffe, die oft für den charakteristischen Duft einer Pflanze verantwortlich sind
und die wir auch in ätherischen Ölen finden. Sie werden von Bäumen und Pflanzen vor allem dazu genutzt, um Insekten zur Bestäubung anzulocken, aber auch, um sich vor Schädlingen zu schützen. Beim
Menschen wirken sie sich positiv auf das Immunsystem aus und beeinflussen unser Stressempfinden. Außerdem haben sie eine erfrischende, desinfizierende und für die Bronchien heilsame Wirkung.
Wahrnehmen können wir sie riechend als typischen Nadelbaumgeruch – insbesondere auch nach Regen, denn dann ist der Duft ganz besonders intensiv und würzig. Also tief durchatmen! Wenn es warm ist,
können wir sie aber auch sehen, denn dann setzen Bäume mehr Terpene frei. Es liegt dann ein leichter Nebel über dem Wald.
Einer der wichtigsten Forscher zum Thema Waldbaden ist übrigens Dr. Qing Li, Professor an der Nippon Medical School in Tokyo und Präsident der im Jahr 2007 gegründeten Gesellschaft für
Waldmedizin. Er hat einen wesentlichen Anteil daran, dass das Waldbaden heute in Japan – wegen seiner positiven Wirkung auf Psyche, Stressempfinden und Immunsystem – ein fester Bestandteil der
Gesundheitsfürsorge ist. Dort gibt es sogar ausgewiesene Waldbade-Wälder. Aber auch bei uns erfreut sich Shinrin Yoku zunehmender Beliebtheit. Also probiert es doch einfach einmal aus!